Universität Hamburg
Fakultät für Erziehungs- und Bildungswissenschaften
Vorlesung: 47-001 Einführung in universitäres und wissenschaftliches Arbeiten
Semester: WiSe 2020/2021
Markus Izzo
„Der Gedanke wartet darauf, dass eines Tages die Erinnerung ans Versäumte ihn aufweckt und ihn in die Lehre verwandelt.“ (Adorno, 2001, S. 144)
Die Schule war seit der siebten Klasse auf einem Gymnasium ein Problem für mich. Zu dieser Zeit, Anfang 1980, radikalisierte sich meine Kritik an den Missständen der kapitalistischen Gesellschaft. Die Institution Schule empfand ich mehr und mehr als Ort von Zurichtung und Zwang. Aus diesem Unbehagen wollte ich heraus. Immanuel Kant verlangt vom Menschen, dass dieser den Mut aufbringt, den eigenen Verstand zu benutzen. Zugleich wusste Kant, dass es „für jeden einzelnen Menschen schwer [ist], sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten“ (Kant, 1784). Meine eigentliche Bildung fand zu meiner Schulzeit außerhalb des Klassenzimmers in selbstgewählten Zusammenhängen statt. Die Lernprozesse waren selbstbestimmt, freiwillig und kollektiv. Ihre Essenz war das Ausleben neuer Ideen (meistens um diese wenig später erneut zu verwerfen). Dieses war Bewegung im doppelten Sinn: gesellschaftlich und als Individuum. Ich schaffte unter großer Anstrengung (und geduldiger Zurede meiner Eltern) das Abitur. Ich ignorierte die Universität und politisierte weiter gegen ungerechte Lebensumstände. Nach einer gewissen Zeit setzte eine Art von widerständiger Routine ein. Aus unzähligen Ideen, die in Bewegung waren und oft die Brüchigkeit der eigenen Subjektivität ausdrückten, wurden Glaubenssätze. Diese Art Sätze lassen Erkenntnisprozesse stillstehen. Ein solcher ‚Glaube‘ drängt nicht nach Erkenntnis. Er führt nicht zu der unabhängigen Person, der Kant sein Sapere aude! zuruft und die sich aus selbstverschuldeter Unmündigkeit befreien kann. Der Glaubenssatz markiert das Verharren in wohlbekannten Gefilden.
Mit Mitte 20 begann ich mich autodidaktisch als Grafik-Designer auszubilden und selbst-ständig zu arbeiten. Diese Tätigkeit mit dem Fundament eines Studiums auszustatten, scheiterte an meiner Unsicherheit. Ich hatte kein Selbstvertrauen, mich auf eine Bildungs-Institution einzulassen, deren Sinnhaftigkeit ich bis dahin verneint hatte. Wider besseres Wissen. Die Vorteile eines Studiums waren in meiner Lebenserfahrung durch die immer wieder erlebten Rückschläge im autodidaktischen Modus evident. Dazu kam ein gesellschaftlicher Druck durch das ‚Nicht dazuzugehören‘. Bourdieu beschreibt diese Bedrängnis in seinem Buch „Die feinen Unterschiede“, dass „der Autodidakt seine Bildung nicht in der vom Ausbildungssystem legitimierten Art und Weise erworben hat, […] [und] er gerade in seinem ängstlichen Bemühen um richtige Zuordnungen immerzu genötigt [ist], deren Willkürlichkeit und damit auch die seiner Kenntnisse zu verraten …“ (Bourdieu, S. 82) Es fällt dem eingeweihten Zirkel auf, dass eine Autodidaktin* ihr Wissen nicht aus dem Bildungssystem bezogen hat, weil die Codes nicht bekannt sind. Dieses Manko ist ein gesellschaftliches Problem. Wolfgang Hetzl sagt über Bourdieu, dass dieser den Eklektizismus der Autodidaktinnen* ablehnt. Für Bourdieu sind diese „das Übel der verfehlten Bildung schlechthin. Da von keiner Institution kontrolliert, das heißt geleitet […]“ (Hetzl, 2012, S. 38). Die gesellschaftlichen Grenzen für Autodidaktinnen* sind auch im heutigen System allgegenwärtig und drücken sich zuallererst im geringeren beruflichen Status aus. Bourdieu verachtete aber mitnichten den sozialen Status der Autodidaktinnen*, vielmehr wollte er für alle Menschen den gleichen Zugang zu Bildungseinrichtungen. Ich sehe aus eigener Erfahrung eine weitere Begrenzung des selbst organisierten Lernens darin, dass dieses häufig selbstbezogen bleibt. Lernen sollte aber immer den Austausch und dabei die kritische Reflexion des eigenen Lernprozesses beinhalten.
Ich möchte nach meinem Bachelor-Abschluss im Studium der Erziehungs- und Bildungswissenschaft die Fähigkeit erworben haben, professionell als Pädagoge arbeiten zu können. Ob eventuell ein Master-Abschluss folgt, wird, neben meiner wirtschaftlichen Lage, davon abhängen, ob ich Themenfelder im Studium erschließe, die ich mit eigener Perspektive wissenschaftlich weiter untersuchen möchte. Ich möchte dafür ein theoretisches Fundament erarbeiten, mit dem ich auch in den späteren beruflichen Herausforderungen bestehen kann. Ich habe im Rahmen einer langjährigen Psychoanalyse einen Eindruck gewinnen können, wieviel Komplexität, Wissen und Verantwortung therapeutische und pädagogische Arbeit mit Klientinnen* verlangt. Darin ist es ebenso wichtig, ein Bewusstsein über sich selbst zu entwickeln, sich selber zu reflektieren. Ich erwarte die Herausbildung dieser Fähigkeiten auch vermittelt über die Praxis des Studierens an sich: Dass ich mich für die Anforderungen der Lehre öffne, dabei selbst überprüfe und weiterentwickeln kann. Durch die langjährige Drogensucht eines engen Familienmitglieds sehe ich, wie schwierig und oftmals verzweifelt die Lage Heranwachsender sein kann. Und ich weiß aus meiner Geschichte, wie groß die Anstrengung ist, die ein junger Mensch aufbringen muss, um sich zu öffnen und zu verändern. Ich kenne daher auch die praktische Anforderung an die Professionalität einer Beraterin*, in extremen Situationen die Zugänge zu Klientinnen* zu finden, aus denen vielleicht neue Möglichkeiten entstehen.
Universität deshalb, weil, trotz der von Teilen aus Politik und Gesellschaft forcierten Unterordnung der Lehre an ökonomische Verwertungsinteressen, die oft zitierte Idee Humboldts von der „Bildung durch Wissenschaft“ für mich mehr als ein Mythos ist. Mein Studium an der Universität ist begleitet von der Erwartung, der „Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt“ (Humboldt, 1903, S. 284) näher zu kommen. Es ist meine Hoffnung, im Sinne Adornos, dass die Erinnerungen an das vielfach Versäumte die Gedanken aufwecken und sie in Lehre verwandeln können.
Quellenverzeichnis:
Adorno, T. W. (2001). Minima moralia. Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag.
Bourdieu, P. (1987). Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (27. Aufl.). Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag.
Hetzl, W. (2012). Der Philosoph und sein Soziologe. Eine Untersuchung zur Kritik Jacques Rancières an der Soziologie Pierre Bourdieus (Diplomarbeit, Hauptuniversität Wien). Universitätsbibliothek, E-Theses – Hochschulschriften-Service. https://othes.univie.ac.at/20515/
Humboldt, W. v. (1903). Werke I, 1785–1795. Hrsg. V. A. Leitzmann. Berlin, B. Behr’s Verlag. Internet Archive. https://archive.org/details/gesammelteschrif04humbuoft
Kant, I. (1784). Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Berlinische Monatsschrift. Projekt Gutenberg-DE. https://www.projekt-gutenberg.org/kant/aufklae/aufkl001.html
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